Es ist der Mittag des 26. Oktober 2017. Ich bin bei meinem Nebenjob, als meine Schwester Juli mich mehrmals anzurufen versucht. Ich öffne WhatsApp und schreibe ihr schnell „Bin bei der Arbeit.“ Sie antwortet mit mehreren Nachrichten, die direkt hintereinander auf meinem Display aufleuchten. „Dani“ „Bitte“ „Geh ran“ „!!!!!!!!!“ „Wichtig!!!!!!!!“. Ich gehe zum Fenster und rufe sie sofort an, meine Hand zittert. Vor einem Monat hat unsere Oma die Darmkrebs-Diagnose bekommen. Ist ihr etwas passiert? Julis Stimme bebt, sie hat geweint. „Papa wird seit mehr als zehn Stunden am Herzen operiert!“. Mir wird schlagartig schwindelig, in meinem Kopf kollidieren die Gedanken. „WAS? Schwebt er in Lebensgefahr?“, „Ich weiß es nicht!“ Als ich zur S-Bahn renne, rufe ich meinen Freund S. an. Er ist gerade beim Mitarbeiterausflug. „Wir müssen sofort nach Karlsruhe.“ Zuhause stecke ich das Nötigste ein, vielleicht müssen wir für ein paar Tage bleiben. Wir fahren um 13:40 Uhr los. Auf der Autobahn schicke ich ein Art Stoßgebet ins Universum. Ich bete eigentlich nie. Über uns reißen die Wolken auf, stoben diffus auseinander und klaffen auf, als müsste etwas Großes nach unten eilen. Da bekomme ich zum ersten Mal richtig Angst um dich. „Wenn er ein Pflegefall wird, muss ich zurück nach Karlsruhe ziehen“, sage ich zu S. und er nickt. Die Teamassistentin seines Büros war es, die meine Schwester angerufen hatte. Sie hatte sich gewundert, warum mein Papa nicht zur Arbeit kam. Er arbeitet seit über 20 Jahren im gleichen Unternehmen. Er kommt immer pünktlich, ist nicht krankgemeldet und hat keinen Urlaub eingereicht. Und trotzdem ist er noch nicht da. Sie hat ein komisches Bauchgefühl. Hatte er vielleicht einen Fahrradunfall? Sie ruft im größten Krankenhaus in Karlsruhe an. Ja, sagen sie, er ist heute Nacht bei ihnen gewesen, jetzt liegt er in der Herzklinik. Ob sie bitte die Angehörigen informieren kann. Meine Schwester ruft in der Herzklinik an. Sie fragt, was passiert ist. Die Frau am Telefon sagt, dass sie es nicht weiß, aber die OP dauert schon sehr lange. Irgendetwas ist offenbar gerissen, sagt sie auch. „Wir sagen Ihnen Bescheid, wenn Sie ihn besuchen können.“ „Wir kommen sofort“, sagt meine Schwester.
Die Aufzugtüren öffnen sich und wir sehen vor uns eine automatische Tür aufgehen. Dahinter steht ein großer Arzt mit grauen Haaren und einer Brille. Er sieht etwas erschöpft aus. Er ist vermutlich älter als mein Papa. „Sind Sie die Angehörigen von Herrn Müller?“, „JA!“, „Setzen Sie sich bitte.“ Da müsste ich es eigentlich schon wissen. Stattdessen denke ich immer noch in einer ununterbrochenen Dauerschleife: Jetzt sagt er uns, was passiert ist und wann wir ihn besuchen dürfen. Wir setzen uns. Der Chirurg sagt: „Herr Müller wurde heute Nacht zu uns gebracht, wir haben direkt mit der Notoperation begonnen, die bis jetzt fast 12 Stunden angedauert hat. Es ist etwas viel Schlimmeres als ein Herzinfarkt passiert, seine Aorta ist eingerissen. Das passiert nicht oft, aber wenn doch, dann muss man sehr schnell sein.“
Er holt Luft. Und dann sagt er den Satz, der alles zum Kippen bringt. „Wir konnten leider nichts mehr für ihn tun.“
Der Moment, in dem diese Worte aus seinem Mund kommen, den Abstand zwischen uns durchqueren und sich wie ein Gift in meinem ganzen Körper ausbreiten, ist auf meiner Netzhaut eingebrannt. In meiner Erinnerung sehe ich, wie sich seine Lippen bewegen, stelle ich ihm den Ton ab, bringe ihn zum Schweigen. Der Raum dehnt sich und schrumpft im nächsten Augenblick auf einen zweifingerbreiten Spalt. Und dann beginnt das Feuer in meinem Brustkorb, kommt der Schmerz; schlagartig und mit voller Wucht. Aus meiner Brust kommen Laute, die ich selbst so noch nie von mir gehört habe. Benommen schleudere ich diesem Arzt, der meinem Papa helfen wollte und ihn doch nicht retten konnte, mein blankes Entsetzen entgegen. „Sie lügen! Sie sind ein Lügner! Das stimmt nicht! Das kann nicht stimmen, was Sie sagen!“ Der Arzt weicht meinem Blick nicht aus, er kennt das alles. Und er wird die Worte nicht zurücknehmen. Ich fahre hoch, der Boden unter mir schwankt, in meinem Kopf setzt der Nebel ein. Ich weiß nicht, wohin mit mir, drehe mich mit dem Gesicht zu einer Wand, meine Hände sind taub. Neben mir sagt meine Oma, die Mutter meines Papas: „Ich kann nicht atmen“ und mir kommt es vor, als wäre sie unerreichbar weit weg. Juli bewegt sich gar nicht. Neben ihr auf dem Boden steht die große Tasche mit seinen Sachen, die wir ihm bringen wollten. Ein Schlafanzug, Socken, Unterwäsche, Hausschuhe, sein Handyladekabel. Die automatische Tür schwingt auf und S. kommt zu uns, er war gerade noch auf der Toilette. Er sieht uns und weiß es sofort. Er geht auf mich zu und möchte mich umarmen, aber ich kann nicht. Es geht nicht, ich bin außer mir. S. geht zu dem Arzt und spricht leise mit ihm, fragt ihn, was genau passiert ist. Ich höre nur einzelne Worte „Aortendissektion“, „Aneurysma“, „Verblutet“. Alles verschwimmt. Eine Pflegerin kommt. „Sie können jetzt zu ihm.“ Nein. Nein! NEIN! Ich kann das nicht. Aber ich muss. Warum wird einem nicht beigebracht, wie man sich darauf vorbereitet, einen Menschen tot zu sehen, den man schon sein Leben lang liebt? Sein noch warmer Körper und unsere Hände auf seiner Haut. Ohne deine Brille sieht er so schutzlos aus. Wie soll man das irgendwie aushalten? Juli hält mich fest und schluchzt. Und unsere Oma, sagt immer wieder „Warum nimmst du uns unsere Kinder? Warum nimmst du uns das Liebste auf der Welt?“.
Wie lange war er noch bei Bewusstsein? Was waren seine letzten Worte, bevor er bewusstlos/narkotisiert wurde? Was seine letzten Gedanken? Hatte er große Angst? Dachte er an uns? Rechnete er damit, nie wieder aufzuwachen? „Er verstarb in der Vollnarkose“, sagt der Chirurg noch, „Er hatte am Ende keine Schmerzen mehr.“ Die Operation dauerte fast zwölf Stunden. Laut der Sterbeurkunde starb er um 14:48 Uhr. Wir kamen um kurz vor 15 Uhr vor der Herzklinik an. Hat er auf uns gewartet?
Am Abend gehen S. und ich in seine Wohnung. Ich möchte heute Nacht hier sein. S. hat schon die ersten Bestatter angerufen. Wir sind endlos müde und können trotzdem nicht schlafen. An Essen ist auch nicht zu denken. Wir wickeln uns in seine Bettwäsche, sein Geruch ist überall. Mehrere Lampen in seinem Wohnzimmer sind über eine Zeitschaltuhr gesteuert und schalten sich ohne unser Zutun an und aus. Am nächsten Morgen geht sein Radiowecker an. Der Bestatter wird in wenigen Stunden hier sein. Ein angeschnittenes Brot auf seinem Küchentisch. Seine Hemden auf dem Wäscheständer. In der Küche surrt sein Kühlschrank. Ist er noch hier?
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Januar 2019. Der Todestag meines Papas ist inzwischen mehr als ein Jahr her. Inzwischen haben meine Schwester und ich seine Wohnung ausgeräumt, uns um sehr viel Bürokratie gekümmert und sind wieder halbwegs in unserem Alltag angekommen. Ich sage halbwegs, weil sich für uns Vieles verändert hat. Es fängt bei Kleinigkeiten auf und hört bei grundsätzlichen Dingen auf. Mir sind Äußerlichkeiten seitdem viel weniger wichtig und ich meide große Menschenmassen, wenn es möglich ist. Ich bin stiller geworden und kann die Gefühle anderer Personen stärker nachfühlen. Mein Studium hat sich verlangsamt, meine Träume wurden wichtiger, mein Blick für das Wesentliche klarer. Was sich für mich nicht verändert hat, ist meine Liebe zu Worten. Schon seit ich in der Grundschule war, erschließe ich mir das Leben und die Welt um mich herum lesend und schreibend. Auch wenn meine Konzentrationsfähigkeit nach dem Tod meines Papas über Monate hinweg beeinträchtigt war und ich mich immer wieder in meinen eigenen Worten verhedderte, schrieb ich jeden Tag meine Gedanken auf so gut es eben ging. Um einen Raum für meine Texte zu finden, in dem ich auch auf andere Trauernde treffen konnte, erstellte ich meinen instagram-Account „trauerdschungel“, auf dem ich seitdem sowohl einzelne Gedanken als auch lyrische Texte teile. Der Austausch, den ich dort durch die Kommentare und Nachrichten anderer Trauernder erlebe, ist für mich von großem Wert. Das Schreiben ist für mich heilend und beruhigend zugleich, weil ich dadurch sicherstelle, nichts zu vergessen. Nicht die Art, wie er lachte, nicht seine Frosch-Finger, nicht seine Liebe zur Musik.
In manchen Büchern zum Thema Trauer heißt es, wenn man einen Elternteil verliert, stirbt die (eigene) Vergangenheit. Aber seit er nicht mehr da ist, fehlt auch ein Stück unserer Zukunft. Ich denke, jede/r Trauernde/r versteht diese Aussage. Jeder schöne und traurige, aufregende und ratlose Tag, an dem die geliebte Person seit ihrem Tod nicht dabei sein konnte und auch in Zukunft nicht sein wird, tut weh und lässt Trauernde den schmerzhaften Verlust in unzähligen Situationen wieder neu spüren. Manchmal ist die Trauer so erdrückend, dass man das Gefühl hat, alleine keinen Umgang mit ihr zu finden. So war das auch bei mir.
Die Idee, nach einer Trauergruppe zu suchen, kam mir ungefähr ein halbes Jahr nach dem plötzlichen Tod meines Papas. Der Großteil der Nachlass-Aufgaben war erledigt und das Leben um mich herum ging scheinbar weiter, als sei nichts passiert. Ich selbst fühlte mich leer, ohnmächtig, unverstanden und allein, weil sich viele Bekannte und Freunde aus Unbeholfenheit zurückgezogen hatten oder das Thema in meiner Anwesenheit ausklammerten. Es gab Tage, an denen ich morgens keine Kraft hatte, aufzustehen und selbst die einfachsten Dinge zu erledigen. Irgendwann wurde mein Wunsch, auf Verständnis und Austausch zu stoßen, quälend. Ich brauchte echten und regelmäßigen Austausch mit Menschen, denen es ähnlich ging wie mir. Die Suche nach einer Trauergruppe war in meinem Fall recht einfach, da es in meiner Nähe gleich mehrere Angebote gab. Ich kontaktierte eine der Leiterinnen einer Trauergruppe für junge Erwachsene und wir verabredeten uns für ein Kennenlern-Gespräch. Bei diesem Treffen erzählte sie mir etwas über sich und das Hospiz und stellte mir das Konzept der Trauergruppe vor. Danach erzählte ich ihr vom Tod meines Papas. Sie hörte lange zu und stellte mir ein paar Fragen. Als mir mitten im Gespräch die Tränen kamen, reichte sie mir eine Box mit Taschentüchern und drückte mich feste. Schon auf dem Rückweg konnte ich das nächste Treffen der Trauergruppe kaum erwarten. Ende Juli war es so weit. Das Treffen fand am Abend statt und ich konnte mich tagsüber kaum konzentrieren, weil ich nicht wusste, was mich erwarten würde. Schon vor dem Eingang wurde ich von einer anderen Teilnehmerin begrüßt. Wir gingen zusammen in den Gruppenraum, wo die Leiterinnen der Gruppe und einzelne Teilnehmer in einem Stuhlkreis saßen. Ich fühlte mich vom ersten Moment an, als würde ich dazugehören. Insgesamt waren ungefähr 15 Personen zum Treffen gekommen. Die Teilnehmer/innen waren alle zwischen 17 und 35 Jahren alt. Jeder, der hier im Kreis saß, hatte in der Vergangenheit mindestens eine geliebte Person verloren. In der ersten Begrüßungsrunde stellte sich jeder kurz vor und erzählte, um welchen Menschen er trauerte und wann die Person gestorben war. Manche sagten auch dazu, was die jeweilige Todesursache gewesen war. Manchmal kam der Tod – wie bei meinem Papa – völlig unerwartet, manchmal folgte er auf einen langen Leidensweg, der die Familien monatelang in eine unerträgliche Ausnahmesituation versetzt hatte. Danach gab es eine zweite Runde, in der jeder im Kreis eine Kerze für seine verstorbene Person anzündete. Nach den Begrüßungsrunden ging es um kreatives Schreiben und wir probierten Methoden aus, die auch im Alltag für den eigenen Trauerprozess hilfreich sein können. Das Treffen endete mit einer Abschiedsrunde, bei der alle im Kreis standen und eine Hand auf die Schulter des Vordermanns/der Vorderfrau legten. In der anderen Hand hielten wir die immer noch brennenden Kerzen unserer Verstorbenen, während eine der Leiterinnen ein Gedicht vorlas. Nach dem „offiziellen“ Teil folgte ein Vesper auf der Dachterrasse des Hauses. Die Luft war immer noch warm und wir stellten ein paar Stühle und einen großen Tisch zusammen. Während dem Essen unterhielten wir uns über unsere Pläne für den Sommer, anstehende Prüfungen und die Frage, welcher der mitgebrachten vegetarischen Aufstriche alle anderen in den Schatten stelle. Natürlich weiß ich, dass nicht alle Trauergruppen gleich sind. Auch habe ich schon von negativen Erfahrungen gehört. Dennoch möchte ich jedem, der sich im Trauerprozess befindet, etwas Mut machen, es in seiner Umgebung zumindest einmal auszuprobieren.
Seit diesem ersten Besuch gehe ich monatlich zu den Treffen der Trauergruppe. Jedes Mal steht ein anderes Thema im Vordergrund und jedes Mal bin ich dankbar, dass ich diese Gruppe gefunden habe. Durch die Impulse der anderen Teilnehmer und der Trauerbegleiterinnen habe ich gelernt, meine Trauer zu akzeptieren, wahrzunehmen und stärker auf meine Bedürfnisse zu achten. Außerdem habe ich kleine Rituale gefunden, die mir in bestimmten Situationen helfen. Ein knappes Jahr nach dem Tod meines Papas hatte ich meine Abschlussarbeit an der Uni eingereicht. Normalerweise hätte ich direkt nach der Abgabe zuerst meinen Papa angerufen, um ihm zu erzählen, wie gelöst ich mich fühlte. Plötzlich ging dieses Bedürfnis ins Leere – wohin also mit der Erleichterung, die ich mit ihm teilen wollte? Auf den Ratschlag einer der Trauerbegleiterinnen fand ich eine tröstliche Möglichkeit, diesen Moment mit meinem Papa zu teilen. Auf dem Friedhof war zur Mittagszeit recht wenig los und so war meine Angst, das feierliche Anstoßen würde in letzter Sekunde noch scheitern, zum Glück unbegründet. Ein wenig nervös war ich trotzdem, als ich den Piccolo aus der Tasche holte und ihn öffnete. Auch wenn ich vorher dachte, ich würde mir albern beim Anstoßen vorkommen, war es ein wirklich schönes Gefühl. Ich habe mir fest vorgenommen, zukünftig immer auf diese Weise mit ihm anzustoßen, wenn es in meinem Leben etwas zu feiern gibt.
Wenn du auch einen geliebten Menschen vermisst, möchte ich dich herzlich dazu ermutigen, solche Rituale in den eigenen Trauerprozess mit einzubinden. Für meinen kommenden Sommerurlaub habe ich mir überlegt, meinem Papa – so wie in den Jahren vor seinem Tod – eine Postkarte zu schreiben und diese in einer Flaschenpost ins Meer zu werfen.
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