Der Moment, in dem ich erfuhr, dass Du nicht mehr lange leben wirst, hat sich tief in meine Seele
gebrannt. Wie als wäre es heute gewesen, weiß ich, wo ich stand. Das Telefon zitternd in den
Händen, ungläubig den Worten der Ärztin lauschend. Mir war klar: Du wirst sterben. Es folgten vier
Wochen voller Abschied, Dein letzter Geburtstag, fünf Tage bevor Du gestorben bist. Und dann warst
Du weg.
Mein Leben ohne Dich – es hat sich grundlegend verändert.
Im Oktober 2017 musste ich begreifen, dass Du nicht mehr da bist. Gestorben. Einfach weg. Wie kann es sein, Papa, dass Du einfach stirbst? Das war so nicht geplant. Wir hatten herausfordernde Jahre hinter uns, haben uns wieder angenähert und dann stirbst Du auf einmal. Mich hat das wütend
gemacht. Wütend auf die Machtlosigkeit, die ich durch Deinen Verlust gespürt habe. Wütend, weil
ich nichts tun konnte. Ich musste akzeptieren, dass Du nicht mehr da bist.
Vor mir lag ein sehr langer Weg voller Schmerz, Traurigkeit, Lähmung. Ich konnte nicht mehr essen,
nicht mehr arbeiten, mich mit nichts anderem beschäftigen als dem Tod. Ich weinte unglaublich viel
und konnte kaum fassen, woher ich all die Tränen nahm. Ganz zu Beginn verkroch ich mich. Ich
wollte nur an Dich denken, nein, ich wollte Dich zurück. Ich wollte mit Dir sprechen, Dich anrufen,
Dich in den Arm nehmen. Dass das nicht mehr möglich war, war für mich nur sehr schwer zu
akzeptieren. Meine Welt stand still, während die Zeit unaufhörlich weiterging. Weihnachten,
Silvester, was sollte das neue Jahr bringen? Alles rauschte an mir vorbei. Ich kann gar nicht genau
sagen, wie lange diese Phase andauerte.
Irgendwann ging ich wieder arbeiten und war konfrontiert mit dem ganz normalen Alltag. Wenig
Platz für Trauer. Wenig Platz für Erinnerung. Schnell die Frage von meinem Umfeld „Wann wirst Du
wieder wie vorher?“. Gerne hätte ich schon damals den Mut gehabt, diese Frage ganz ehrlich zu
beantworten: „Nie“. Ich bin auch nicht mehr die Gleiche wie vorher. Und das ist gut so. Dein Tod hat
mich verändert. Denn irgendwann begann ich zu kämpfen.
Ich holte mir Hilfe, besuchte Trauergruppen und fühlte mich verstanden und aufgehoben bei
Menschen, die ähnlich fühlten wie ich. Ich spürte, dass der Austausch über den Verlust eines
geliebten Menschen eine Tiefe in Gespräche bringt, wie ich sie vorher kaum erlebt hatte.
Irgendwann hatte ich das Bedürfnis, etwas für meinen Körper zu tun. Aber die Trauer war eben
meine ständige Begleiterin geworden. In ein Fitnesstudio gehen? Unvorstellbar! Laute Musik, andere
Menschen? No way! Ich konnte nicht steuern, wann ich an Dich denken musste, mir die Tränen
kamen und für einige Zeit einfach gar nichts mehr ging. Ich entdeckte SeelenSport für mich. Ein
Bewegungsprogramm speziell für trauernde Menschen. Bei den Trainings mit Katy, der Gründerin,
fühlte ich mich aufgehoben und verstanden. Auch wenn das für mich harte Trauerarbeit war, so
hatte ich doch in unseren Trainings den Raum für meine Traurigkeit, meine Tränen und meine vielen
Zweifel und Ängste. Im „normalen Leben“ äußerte ich die zu dieser Zeit schon lange nicht mehr. Da
gings ums funktionieren, ums weitermachen.
Je mehr ich mich mit dem Sterben und der Trauer auseinandersetzte, desto mehr zog mich dieses
Thema an. Nicht nur die Tiefe der Gespräche, auch die Auseinandersetzung mit der eigenen
Endlichkeit machten mich nach und nach wieder lebendiger. Das klingt paradox, war für mich aber
so. Der Tod war für mich nach wie vor unbegreiflich. Ich wollte aber genauer hinsehen, wollte
verstehen. Deswegen habe ich mich für eine Ausbildung zur Hospizbegleiterin entschieden. Für mich
war das eine sehr intensive Zeit, in der ich aber tatsächlich nach und nach einen Zugang zum Tod
gefunden habe. Viele Fragen, die ich mir im Zusammenhang mit Deinem Sterben gestellt habe,
wurden mir beantwortet. Nach und nach holte ich den Tod als Teil des Lebens (denn das ist er) in
meinen Alltag.
Mir wurde immer wichtiger, über das Thema Tod und Trauer zu sprechen. Viel zu sehr ist das noch
ein Tabu in unserer Gesellschaft. Also gründete ich meinen Blog www.lieben-sterben-leben.de auf
dem ich viel von Dir erzähle, lieber Papa. Du bleibst lebendig, weil meine Trauer um Dich, meine
Erinnerungen an Dich und mein Weg, den ich nach Deinem Tod gehe, dort präsent sind. In Worten.
Du hast mir das Talent zum Schreiben mitgegeben, hast es selbst geliebt, Texte zu verfassen. Dass ich
einmal einen Blog haben würde, in dem ich über Deinen Tod erzähle, hätte ich nicht gedacht. Und
schon gar nicht, dass sich das für mich erfüllend anfühlen könnte. Ich komme dadurch mit anderen
Trauernden ins Gespräch. Kann mit ihnen fühlen. Kann ihnen an einigen Stellen mit meinen Worten
und Erfahrungen helfen.
Außerdem wurde der SeelenSport zu einem festen Bestandteil meines Alltags. Die Übungen, die sich
mit den Gefühlen der Trauer beschäftigen, halfen mir, in den Tag zu starten. Sie halfen mir, wenn die
Traurigkeit sonst keinen Ausdruck fand. Weil sie verborgen war, hinter einer Wand voller Wut und
Angst. Sie stärkten meinen Körper, gaben mir eine aufrechte Haltung – nicht nur äußerlich, sondern
auch innerlich. Ich nahm all meinen Mut zusammen und machte selbst die Ausbildung zur Trainerin
für SeelenSport, denn in mir reifte immer mehr der Gedanke, auch selbst Trauernde begleiten zu
wollen. Diese Aufgabe ist zu meiner Erfüllung geworden. Hätte mir das jemand vor einigen Jahren
gesagt, ich hätte nur mit dem Kopf geschüttelt.
Um die Begleitung trauernder Menschen für mich auch auf „professionelle“ Füße zu stellen, mache
ich außerdem eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin. Wer weiß, vielleicht wird das irgendwann
einmal mein Beruf? Meine BerufUNG scheint es jedenfalls zu sein.
Und das alles, weil Du gestorben bist, lieber Papa. Bei all der Zuversicht, die ich durch meinen neuen
Lebensweg spüre, all den reichen Momenten, die ich in dieser Arbeit erleben darf, begleitet mich die
Trauer um Dich dennoch. Du fehlst. Immer und überall. Ich erzähle oft von Dir. Weil Du mich geprägt
hast, ein untrennbarer Teil meiner Geschichte bist. Die Trauer um Dich, sie wird immer bleiben. Ich
nehme sie achtsam an als eine Begleiterin, die nun immer an meiner Seite sein wird und ihre
Aufmerksamkeit fordert, einfach so. Ohne Vorwarnung manchmal. Wie ein unbarmherziger
Faustschlag in meinen Bauch werde ich daran erinnert, dass Du tot bist. Nach und nach lerne ich,
damit zu leben.
Und oft denke ich zurück an die Machtlosigkeit, die ich zu Beginn spürte. Die Frage nach dem
„Warum“, die ich mir so oft stellte. Sie ist bis heute nicht beantwortet. Aber durch all das, was ich tue
habe ich das Gefühl, dass Du nicht ganz umsonst gestorben bist. Und das ist für mich wichtig, um
weitermachen zu können. In meinem Leben ohne Dich.
Quelle Foto: Silke Hufnagel
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