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Erfahrungsbericht: Wiebke, 28, Herzensmensch


Hallo lieber Leser,


wie schön, dass du so mutig bist, dich den Themen Verlust, Tod & Trauer zu widmen.


Wir sind Wiebke (28), Espen (1) & die Löwenbabys (2), deren Namen ich – ich weiß gar nicht genau warum – für mich behalten möchte.


Mein Sohn Espen hatte gestern seinen ersten Todestag. Ich nehme ihn zum Anlass, über ihn, seine Geschwister, unsere Verbindung & meinen Umgang mit meinen Gefühlen niederzuschreiben.


Ich schreibe sowieso ziemlich viel. Bei Instagram unter espensmama & in meinem Buch, was ich irgendwann veröffentlichen werde. Es ist meine Art der Therapie. Für mich ist es wichtig meine Gefühle zu benennen, zu beschreiben. Dass meine Worte vielen Anderen helfen, ist ein wundervoller Nebeneffekt.


Angefangen hat es, dass viele Mamas von sichtbaren, lauten Kindern, erkannten, dass es keineswegs selbstverständlich ist, dass ihre Kinder nachts schreien können. Es gab einen Wandel von genervt zu dankbar. Wir nennen das #espiwelle. Außerdem bekommen andere verwaiste Mamas oder generell Trauernde eine Stimme, wenn sie verstummt sind.


Irgendwann, da ich rausgeboomt wurde aus der Gesellschaft & dadurch einen anderen Blick darauf habe, schrieb ich auch sehr viel gesellschaftskritisches. Das klingt dramatischer als es ist, ich hinterfrage einfach Dinge, die schon immer so gemacht wurden & als „normal“ gelten.

Vor kurzem habe ich angefangen, die Themen „Inneres Kind“ & Trauma näher zu beleuchten.

Das hat mich viele Espifans gekostet (was mir nicht wichtig ist), ich sehe es aber als elementar an darüber zu sprechen, weil wir alle betroffen sind.


Sowieso geht es bei Trauer ja auch nur um einen Gefühlscocktail & genau das wurde uns halt als Kinder abtrainiert. So empfinde ich Trauer als gewaltige Chance wieder zu sich zurück zu finden. Es sind immer die großen Krisen, die erwachen lassen.

Wir bauen in unserem Leben einen Panzer um unser Herz & solche extremen Erfahrungen sprengen ihn weg. Das ist doch eindeutig ein Gewinn, nämlich wieder einen natürlichen Umgang zu sich & zu seinen Gefühlen zu finden. Allein was das Abgrenzen in der Trauer angeht. Die meisten haben generell aus ihrer Prägung heraus, Probleme NEIN zu sagen, die Trauer schupst dich ständig in solche Situationen, in denen du nur zu dir stehen kannst, in dem du ehrlich sagst „nein, ich kann das gerade nicht“.


Ich schreibe einfach aus meinem Herzen heraus, oft denke ich, ich bin nur Espens Kanal, es sind gar nicht meine Worte. Ich nutze Schreiben als Ventil, öffne ein Textfeld & weiß gar nicht, was dabei heraus kommen wird. So auch jetzt. Ich bin selbst gespannt.


Hätte mir jemand erzählt, dass ich den ersten Todestag meines Kindes mal als friedvoll bezeichnen würde, hätte ich ihn für völlig verwirrt gehalten.

Auch wenn mir jemand erzählt hätte: du verlierst mal drei Kinder, aber du wirst die Chance darin erkennen & ihre Botschaften umsetzen, sogar in die Welt tragen, hätte ich ihn wahrscheinlich stehen gelassen. Aber exakt dieser Fall ist eingetreten.


Die Geburt eines Kindes verändert deren Eltern, aber ihr Tod umso mehr.

Meine Kinder haben mir so viel beigebracht, dass ich nun mit 3 unsichtbaren Kindern, wie ich sie immer nenne, da stehe & voller Stolz auf ihr Werk blicken kann.

Es ist niemals von Vorteil, wenn jemand Anderes sagt: da steckt bestimmt ein Sinn dahinter.

Wenn du allerdings von selbst darauf kommst, kann ich dir nur applaudieren.


An dieser Stelle möchte ich Eckhart Tolle zitieren:


„Das Nahen des Todes und auch der Tod selbst, die Auflösung des physischen Körpers, sind immer eine große Möglichkeit für spirituelles Erwachen. Leider wird diese Chance in den meisten Fällen verpasst, weil wir in einer Kultur leben, die vom Tod fast kein Verständnis hat.“


Es beschreibt was passiert ist, was der Tod meiner Kinder mit mir gemacht hat.


Ich wurde 2016 das erste Mal schwanger, mit 25 damals.

Leider verlor ich meine beiden Zwillinge nacheinander.

Als mein erstes Kind in meinem Bauch starb, dachte ich, dass es nichts schlimmeres geben könnte. Ich wurde noch zweimal eines Besseren belehrt.


Schon damals hörte ich Sätze wie „du hast doch aber noch ein Kind“ usw. Mir wurde gänzlich meine Trauer abgesprochen. Als ich dann beide Zwillinge verloren hatte, war ich völlig verloren. Dadurch dass niemand sie gekannt hatte, außer ich als Mutter, weil sie in meinem Bauch strampelten, war ich auch entsprechend allein mit meiner Trauer.

„Sie waren ja noch gar keine Kinder“ & „Andere haben das auch geschafft“ waren typische Sätze.

Damals war das einzige Licht am Tunnel eine erneute Schwangerschaft. Heute denke ich völlig anders darüber, ich war damals noch nicht so weit wie jetzt.

Auf Grund des Druckes ging ich zu Hochzeiten mit vielen Babys, litt Höllenqualen, niemand verstand mich. Meinen Job hatte ich auch noch verloren & meine Beziehung litt extrem.

„Du kannst mich nicht zum Trauern zwingen“ waren häufige Aussagen.

Heute weiß ich, dass es völlig unwichtig ist wie oft jemand zum Friedhof geht oder ob er zur Beerdigung kommt. Selbst wenn sich jemand nicht meldet, wie kürzlich zu Espens Geburtstag & seinem Todestag gestern, kann er ja trotzdem an Espen denken, ohne mich zwischenzuschalten.


Was ich aber auch weiß ist, dass Trauer nicht zu umgehen ist. Irgendwann holt sie dich ein. Ob nach 5 Jahren oder 10 – dann wenn das Umfeld noch weniger Verständnis hat. Ich versteh sowieso nicht was daran verkehrt ist, dass es einem Menschen nicht gut geht, wo er das Wertvollste verloren hat. Es gibt ziemlich viele völlig verdrehte Wahrheiten bzgl. Trauer.

Mir ist es ein Bedürfnis aufzuräumen. Hoffentlich haben es so kommenden Generationen einfacher, weil ihnen ihre Trauer zugestanden wird.

Ich orientierte mich neu, absolvierte Ausbildungsseminare, aber mir war klar, dass ich danach wieder den Schritt wagen würde, schwanger zu werden. So war die Abmachung & so wurde es dann auch. Nachdem ich im März die stille Geburt hatte, war ich Ende November wieder schwanger. Ich war mir so sicher, dass ich nicht einen Schwangerschaftstest machte.


Die Schwangerschaft war leider turbulenter als gedacht, denn am ersten Todestag der Zwillinge war klar, dass ich meine bisherige Beziehung nicht weiter führen konnte.


Das ganze letzte Jahr zog an mir vorbei. Ich hatte schwere Vorwürfe an mich selbst: „Da ist sie endlich schwanger, hat was sie will & haut ab“. Heute weiß ich, dass es nicht meine Überzeugung waren, sondern die der Anderen. Dass mir auch noch jemand Anderes die Augen geöffnet hatte, ging natürlich umso weniger. Alle waren einfach dagegen & ich die Schuldige. Es waren wirklich harte Zeiten & ich bin jedem Menschen dankbar, der zu diesem Zeitpunkt für mich da war, bei dem ich wohnen konnte usw.


Mit meinem heutigen Wissen weiß ich, dass Espen all dies abbekommen hat, was mich sehr traurig macht. Ich weiß aber auch, dass alles so kommen sollte.

Völlig geerdet wurden wir dann alle, als es bei einer Untersuchung hieß, dass mein Baby einen doppelten Aortenbogen hatte. Ich versunk kurz im „Schon wieder“, war so geschockt, Horrorszenarien zogen an mir vorbei. Ich hatte sofort Angst, auch noch dieses Baby zu verlieren. Nach einem Tag schon, war ich jedoch völlig positiv. Ich wusste, dass wir das packen. Wer soll an mein Baby glauben, wenn nicht ich.


Ich verweigerte Fruchtwasseruntersuchung & Co, ein besonderes Recht auf Abtreibung sowieso.

Ich fühlte: mein Baby wird groß & schwer. Sein Herz beeinträchtigt ihn nicht & er kommt zu früh auf die Welt. & so wurde es dann auch.


Ruhe in meine Schwangerschaft kam erst gegen Ende der Schwangerschaft, als wir unsere neue Wohnung hatten. Ich genoss es jeden Tag Melone zu essen & mich ausruhen zu dürfen. Im wahrsten Sinne eine ruhige Kugel zu schieben.


Am 28. Juli 2018 wurde er dann geboren. In Schwangerschaftswoche 36 ziemlich schwer mit 3660g, kam unser Titus Espen auf die Welt.

Erst nannten ihn alle Titus, weil Espen noch nicht unterstrichen war, denn seinen Rufnamen hatte er selbst gewählt. Espi nannte ich ihn aber schon vorher.

Er sah einfach genau aus wie ich. Mein Ebenbild. Die selben langen, dunklen Haare, der selbe Knick im Ohr. Die Augen, die Nase. Alles.


Nach den ersten Tagen Krankenhaus, segnete auch das Herzzentrum alles als völlig in Ordnung ab. Wir waren frei. Unserem Familienleben stand nichts mehr im Weg.


Bis Espen dann eines Tages nicht mehr aufwachte. Am 15. August 2018 erwachten wir neben unserem toten Kind.

Ein Notarzt, noch ein Notarzt. Ich nur am zusammenbrechen. Ein langsames Kopfschütteln der Notärztin, was seinen Tod bedeuten sollten. Polizei, Notfallseelsorgerin, Bestatter.

Ich durfte mich noch einmal von ihm verabschieden, verstand gar nichts. Dann wurde er rausgetragen.


18 Tage hatten wir mit ihm. 18 Tage Ewigkeit.


Nachdem ich monatelang in dem Schock lebte, dass er ja sicherlich gleich wieder bei mir sein würde, Jeden fragte, ob er Espen mitgebracht hat oder ihn suchte, kam irgendwann die Phase der aufbrechenden Gefühle. & da war wirklich jedes Gefühl präsent.


Von meinem Umfeld wurde das nicht so angenommen. Noch weniger als es mir Richtung meines eigenen Geburtstags immer immer schlechter ging. Ich hatte Espen geboren, aber er durfte nicht bei mir sein, der Schmerz befiel immer mehr meinen Körper. So war ich 6 Monate nach Espens Tod vergleichbar mit einem Schlaganfallpatienten.

Ich konnte teilweise nicht sprechen, auf Toilette, essen usw.

„Dir gings doch aber schon so viel besser“ - weil die Information noch gar nicht durch meinen Kopf gesickert war. Das schlimmste ist nicht, sein Kind zu beerdigen, sondern der Tag an dem die Information ankommt. Alle zogen an mir herum. Kur, Therapie, Psychopharmaka. Ich sollte mich nicht so hängen lassen. Ich spürte, dass dies der unumgängliche Tiefpunkt war.

Ein Punkt, der nicht zu umgehen war. Mit letzter Kraft tippte ich ein paar Zeilen für Angehörige. Ein Beitrag, der dermaßen einschlug. Es gibt nämlich einen großen Unterschied zwischen nicht aufstehen wollen oder nicht aufstehen können.


Für Außenstehende ist es schwer, dies Leid anzusehen. Sie haben zumeist ihre eigene Trauer nur verdrängt & möchten, dass alles wieder gut ist. Gut wird es aber nicht mehr werden. Ich werde nie wieder der Mensch sein, der ich mal war, das gilt es zu akzeptieren.

Wir Trauende jedoch fühlen diesen Schmerz & können ihn nicht einfach so begraben.

Er darf da sein. Er ist mein Begleiter. Erst wenn ich ihn wegdrücke, muss er mächtig werden.

Ich finde die Unfähigkeit wegen mangelndem Verständnis um Trauer & ihre Phasen schlimm, denn so ist es, dass Trauernde nicht ihre Trauer zugestanden wird. Arbeiten gehen, weiter machen, verdrängen, das scheint in den Augen der Meisten richtig.


Gerade klingelte ein Postbote, wie vor zwei Tagen schon, & wir sprachen wieder lange über Espen & über die ganzen Zusammenhänge von Abtrainieren der Gefühle der Kinder & später nicht Umgehen können mit Trauer im besonderen oder Gefühlen im Allgemeinen. Dass Trauer nicht zu umgehen ist & Trauer so viele Facetten hat, keineswegs schwarz ist.

Der Druck von Außen so groß ist & wir alle irgendwie sein müssen, hauptsache den Anderen gefällt es. Das fängt beim Verhalten der eigenen Kinder an, wobei bloß nicht aufgefallen werden darf & zieht sich durch das ganze Leben. Ich bin dankbar über unseren Austausch eben & zuversichtlich, dass es einige Menschen gibt, die nicht nach der Norm handeln & dass sie immer mehr werden. Für mich hängt der Umgang mit Trauer mit dem nicht ausleben dürfen der Gefühle als Kinder & später als Erwachsener alles miteinander zusammen.

Genau wie dass Trauer ein absoluter Reinigungsprozess ist. All die alte Scheiße, wenn ich es mal so deutlich formulieren darf, wird zum Vorschein gebracht, wird so endlich gesehen & darf heilen.

Allein schon, indem wir Sachen anerkennen, das Dunkle beleuchten & als Teile von uns annehmen, kann Heilung geschehen.


Ich möchte jedem Trauernden ermutigen, zu sich & seinen Gefühlen zu stehen, denn genau darum geht es. Seinen Schmerz nicht klein machen zu lassen oder zu handeln, wie Andere es für richtig halten. Du musst deinen Kopf über Wasser halten, atmen, überleben – also bestimmst du auch wie.


Meine Kinder, vor allem Espen, sind mein Kompass. Sie leiten mich. Ich habe keine Angst mehr vor dem Leben, noch weniger vor dem Tod. Ich hab nur noch Vertrauen.

Ich war früher für viele Sachen, die ich jetzt 100% lebe, kein bisschen empfänglich. Meine Jungs & mein Mädchen haben mich auf meinen Weg gebracht, auf den richtigen Pfad, von dem ich früh abgekommen war (wie so Viele musste ich mein Herz verkaufen, um geliebt zu werden. Brav & fleißig sein, im Strom schwimmen, statt meine Persönlichkeit zu leben. Ich habe also mich verraten, um Liebe & Anerkennung zu bekommen. Kinder passen sich an, um gesehen zu werden. So rennen dann so viele „angepasst angepisste“ Menschen durch die Gegend, die die Wahrheit von irgendwem, aber nicht ihre leben.) Sie haben mich zu meiner Herzenswahrheit geführt.

Ich wäre ihnen sicherlich ein liebende Mutter gewiesen, aber gefangen & nicht so wie ich es gern gewesen wäre. „Ich mach es einfach anders“ funktioniert nämlich nicht, viel zu tief verankert ist alles im Unterbewusstsein. Sie haben mir Freiheit & Frieden geschenkt. Sie haben mich mit extremer Heftigkeit geschupst - zu mir selbst, aus dem alten Gefängnis heraus, mir meine Brille, durch die ich die Welt bisher betrachtet hatte, runtergerissen. Ich habe rückblickend das Gefühl, ich hab Monopoly mit Maumau-Regeln gespielt, ganz einfach, weil ich es nicht hinterfragt habe, ich habe es wie die Allermeisten einfach übernommen. Ich bin ihnen unglaublich dankbar dafür. Ihre Hülle zu opfern war ihr Liebesdienst an mich. Es ist ein Geschenk, dass ich nicht erst mit 50 in der Midlife-Krise oder auf dem Sterbebett mein ganzes Sein hinterfrage, sondern durch meine Drei gezwungen war, mich mit 27 komplett zu revolutionieren.

Dass Espen gleichzeitig so viele andere Leben verändert & Kindern eine bessere Kindheit beschert (wie in so vielen Nachrichten steht) ist ziemlich gigantisch. Es ist eine spannende Reise.

Sehe ich heute Familien, spüre ich keinen Mangel, weil ich keine haben kann. Ich bin nicht weniger wert & sie nicht glücklicher als ich. Ich bin mir so viel Wert wie ich mir zugestehe & das ist mittlerweile eine Menge. Egal wer an meiner Seite ist, wie ich aussehe oder wieviel Geld ich verdiene. Ich bin ich. Ich bin besonders - wie Jeder. Aber ich bin keine billige Kopie mehr. Ich feier mich selbst. Was nicht heißt, dass ich manchmal nicht alles vor Wut in Stücke reiße oder im Tränenozean versinke - bei allem Sinn erkennen, ist meine Seele in einem menschlichen Körper. Wir sind Fühlwesen. Alles darf sein. Ich nehme jedes Gefühl an. Fühlen heißt Leben.


Ich könnte noch viele Zeilen weiter schreiben, all das haben meine Kinder mir gezeigt. Es ist ein wahrlich harter Preis, aber ich erkenne ihn an. Irgendwann, wenn genug Heilung geschehen ist, werde ich wieder Kinder haben & die werden genau davon profitieren, weil ich ihnen eben nicht – weil es gar nicht anders möglich ist – meinen Rucksack mit meinen Themen & sämtlicher Generationen zuvor aufsetze.


Wir tragen die ganze Last derer, die nicht trauern konnten, sie vererbten Traumata. Wir haben den Luxus heutzutage, also lasst uns reflektieren, aufarbeiten, heilen – für uns & unsere Kinder.

Meine Kinder haben mir die Zeit dazu geschenkt. Denn was haben Eltern mit sichtbaren Kindern nicht? Zeit sich ihren Schattenthemen zu widmen – dabei wäre es für die Kinder so wichtig.


Das größte Geschenk einer Mutter an ihre Kinder ist das Aufräumen ihrer Vergangenheit.


Los geht’s


Wiebke

espensmama

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